EuGH weitet Schutz vor Diskriminierungen massiv aus

von Prof. Dr. Christian Rolfs, veröffentlicht am 17.07.2008

In der mit Spannung erwarteten Rechtssache Coleman (Rs. C-303/06) hat der EuGH heute sein Urteil verkündet. Im Kern ging es um die Frage, ob den Schutz vor Diskriminierungen aus der RL 2000/78/EG nur derjenige beanspruchen kann, der selbst behindert ist, oder ob auch Dritte vom personellen Anwendungsbereich der RL erfasst sind. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, Frau Coleman, ist Mutter eines behinderten Sohnes und hatte u.a. geltend gemacht, von ihrer Arbeitgeberin als „faul“ bezeichnet worden zu sein, wenn sie habe freinehmen wollen, um ihren Sohn zu betreuen, und ihr vorgeworfen worden sei, sie benutze ihr „Scheiß-Kind“, um ihre Arbeitsbedingungen zu manipulieren (siehe BeckBlog vom 14. 7. 2008).

Der Gerichtshof hat diese Frage bejaht: Die RL 2000/78/EG sei dahin auszulegen, dass das dort vorgesehene Verbot der unmittelbaren Diskriminierung nicht auf Personen beschränkt sei, die selbst behindert sind. Erfahre ein Arbeitnehmer, der nicht selbst behindert ist, durch einen Arbeitgeber eine weniger günstige Behandlung, als ein anderer Arbeitnehmer in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde, und sei nachgewiesen, dass die Benachteiligung des Arbeitnehmers wegen der Behinderung seines Kindes erfolgt ist, für das er im Wesentlichen die erforderlichen Pflegeleistungen erbringt, so verstoße eine solche Behandlung gegen das Verbot der unmittelbaren Diskriminierung in Art. 2 Abs. 2 lit. a RL 2000/78. Zudem sei die Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen, dass das dort vorgesehene Verbot der Belästigung nicht auf Personen beschränkt sei, die selbst behindert sind. Werde nachgewiesen, dass ein unerwünschtes Verhalten, das eine Belästigung darstelle und dem ein Arbeitnehmer ausgesetzt sei, der nicht selbst behindert ist, im Zusammenhang mit der Behinderung seines Kindes stehe, für das er im Wesentlichen die erforderlichen Pflegeleistungen erbringt, so verstoße ein solches Verhalten gegen das Verbot der Belästigung in Art. 2 Abs. 3 RL 2000/78.

Der EuGH begründet seine Auffassung mit dem Zweck der Richtlinie, der auf die Bekämpfung jeder Form der Diskriminierung aus Gründen einer Behinderung in Beschäftigung und Beruf gerichtet sei. Das Diskriminierungsverbot gelte nicht für eine bestimmte Kategorie von Personen, sondern in Bezug auf die in Art. 1 der Richtlinie genannten verpönten Merkmale. Eine enge Auslegung der Richtlinie dahingehend, ihre Anwendung auf Personen zu beschränken, die selbst behindert sind, würde dieser Richtlinie einen großen Teil ihrer praktischen Wirksamkeit nehmen und den Schutz, den sie gewährleisten soll, mindern.

Das Urteil hat weitreichende praktische Bedeutung, zumal es entsprechend auf die anderen in dieser sowie in der RL 2000/43/EG genannten Merkmale – Rasse, ethnische Herkunft, Religion, Weltanschauung, Alter und sexuelle Ausrichtung – zu übertragen sein dürfte. Der Gerichtshof wird in der demnächst zur Entscheidung anstehenden Rechtssache „Bartsch“ (Rs. C-427/06) die Gelegenheit haben, seine Überlegungen fortzuentwickeln. Dort ist über eine Altersdifferenzklausel in der Hinterbliebenenversorgung zu entscheiden, die dem Ehepartner eine Witwen- bzw. Witwerrente versagt, wenn dieser wesentlich jünger als der verstorbene Arbeitnehmer ist.

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4 Kommentare

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Gerade Tz. 50 des Urteils erweckt den Eindruck, der EuGH könne auch abstrakte Diskriminierungen erfasst sehen. In diesem Zusammenhang möchte ich auf das Urteil C-54/07 - Feryn vom 10.07.08 hinweisen, in dem der EuGH für die vergleichbare RL EG/2000/43/feststellt, dass das Verbot abstrakter Diskriminierung im nationalen Recht von der RL zugelassen wird, aber nicht dem dort vorgesehenen Schutzniveau entspricht.

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[...] begrüssen die Bemühungen der Komission mit klaren Vorgaben, den Barcelona-Prozess zu Art.3 und das aktuelle Coleman-Urteil des EuGH. ● Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf (Dads Army, Reeves), die Integration [...]

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Ich denke, dass die praktische Reichweite des EuGH-Urteils noch gar nicht richtig abzusehen ist.

Müßten nach dem Urteil auch Bestimmungen des SGB IX ggf. richtlinienkonform ausgelegt werden? Bislang wurden dem besonderen Kündigungsschutz der §§ 85 ff SGB IX z.B. nur solche Sachverhalte unterzogen, bei denen der Arbeitnehmer selbst schwerbehindert oder schwerbehinderten Menschen gleichgestellt ist. Wenn jedoch der besondere Kündigungsschutz der §§ 85 ff. SGB IX mit Blick auf die Europäische Geleichbehandlungsrichtlinie auszulegen ist, wäre dann eine Zustimmung des Integrationsamtes auch bei quasi "mittelbaren Behinderungen" erforderlich, wenn z.B. die Pflege eines schwerbehinderten Menschen Auswirkungen auf das Arbeitsverhältnis hat und deshalb gekündigt werden soll?

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