Gäfgen erreicht in Straßburg Annahme durch die Große Kammer

von Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg, veröffentlicht am 05.12.2008

Nachdem Magnus Gäfgen bei der "Kleinen" Kammer des EGMR - wie berichtet - eine Niederlage hatte, beantragte  sein Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Michael Heuchemer die Verweisung an die Große Kammer. Mit Datum 1. Dezember 2008 hat ein Ausschuss von fünf Richtern der Großen Kammer den Antrag angenommen. Dies geschieht nach Art. 43 Abs. 2 EMRK dann, "wenn die Rechtssache eine schwerwiegende Frage der Auslegung oder Anwendung dieser Konvention oder der Protokolle dazu oder eine schwerwiegende Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft."  - Das ist schon ein wichtiger Teilerfolg, zumal dies bei Individualbeschwerden nicht häufig geschieht.

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11 Kommentare

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[...] nun von der Großen Kammer beantwortet werden. Dr. Bernd v. Heintschel-Heinegg berichtet im Beck-Blog kurz über den Erfolg, den Rechtsanwalt Dr. Heuchemer, in dem Verfahren nach Art. 43 EMRK für [...]

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Kaum kann es die grundsätzliche Bedeutung und Wichtigkeit des Beschwerdeverfahrens in Straßburg eindrucksvoller unterstreichen, als wenn im Jahr 2008 in einem sehr seriösen Blog offenbar allen Ernstes der "Verwirkung der Grundrechte", der Vogelfreiheit, der Verhängung von "Acht und Bann" das Wort geredet und dabei zugleich das Rechtsschutzniveau der Strafrechtspflege zu Zeiten der Bamberger Halsgerichtsordnung als Leitbild augegeben wird. Den Verlust sämtlicher Rechte kennt die Wertordnung des Grundgesetzes aus guten Gründen nicht. Selbstverständlich steht es mir nicht zu, dieserhalb Empfehlungen auszusprechen. Jedoch erscheint es doch bemerkenswert, welch auffällig scharfe Kritik die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Richterausschusses der Großen Kammer von seiten eines solchen Menschen erfahren, der wohl - wenn ich recht sehe - eine Gesellschaft und Rechtsordnung empfiehlt, die den völligen Rechtsverlust und die Vogelfreiheit kennt und sich nicht daran stößt, Menschen das "Verrotten" in Gefängnissen zu wünschen (vgl. als Gegenlicht: BVerfG 35, 202). Eigentlich könnte man sich als Verteidiger zurücklehnen und über solche Stimmen eher freuen: Mag die Große Kammer entscheiden; der Autor sollte das Urteil alsdann respektieren, so wie wir es auf der Seite der Verteidigung zu respektieren haben werden. Vielleicht lohnt aus juristischer Sicht aber eine wichtige Präzisierung: Keineswegs geht es lediglich um "10 Minuten harte Vernehmung", wie a.a.O. und auch sonst verschiedentlich im Netz nachzulesen ist (wobei zu diesen Vorgängen auf den Tatbestand des "Daschner-Urteils" und insbesondere auf die Zusammenfassung des BVerfG in 1 BvR 1807/07 v. 19.2.2008 hingewiesen sei. Es geht vielmehr um die Verwertung von Beweismitteln, die offensichtlich vom Zeitpunkt des Beschlusses vom ersten Hauptverhandlungstag (9.4.2003) zugunsten ihrer vollumfänglichen Verwertung das Verfahren doch offensichtlich irreversibel geprägt und die effektive Verteidigung als Zentralkriterium des Art. 6 EMRK untergraben haben; im Einzelnen verweise ich auf unser Vorbringen. Hier erscheint das Vorbringen der Gegenseite bemerkenswert dürftig, diese objektiven Beweismittel seien nicht bzw. (sinngemäß) nur zur Verifizierung der Richtigkeit eines freiwilligen Geständnisses verwendet worden. In der st. Rspr. des EGMR, insbesondere der Jalloh-Entscheidung, finden sich eindeutige Bekenntnisse zum Stellenwert von "nemo tenetur" im Sinne rechtsschutzfreundlicher Grundsätze, deren Anwendung die Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland ohne weiteres bewirken muss. Die Werte aus Art. 3 und 6 EMRK sind zentrale Werte der Konvention, wie es der Gerichtshof in einer lange zurück verfolgbaren, beeindruckenden Rspr.- Tradition statuiert und die entsprechenden Kriterium immer weiter präzisiert hat (vgl. Jalloh (GC), Randziffern 97 ff.). So wird sich an der zu erwartenden Entscheidung der Großen Kammer auch der Wille des Gerichtshofs messen lassen, diese zentralen rechtsstaatlichen Werte auch künftighin konsequent zu verteidigen - auch in einem Fall, in welchem die Verurteilung des belangten Staates sicher keinen ungeteilten Beifall erzeugen wird. Aber gerade dies sind Stunden, in denen sich die Würde und die Macht der Gerichte zeigen muss und wird, den Buchstaben des Gesetzes unbeirrt anzuwenden und die Konsequenzen einer richtigen, eindrucksvollen Rspr. auch in einem solchen Fall konsequent und ohne Ansehung der betroffenen Person zu ziehen; dies ist Teil des Kernverständnisses von Grund- und Menschenrechten. Aus diesem Grunde sprach ich jüngst von einem "Lackmustest" für Gesellschaft und Rechtsordnung. Die Entscheidung des Richterausschusses hat bewiesen, dass man diese Tragweite offenbar erkennt und deshalb den Beschluss nach Art. 43 II EMRK antragsgemäß gefasst hat. So sehen wir einer wichtigen Entscheidung mit Spannung entgegen - wir werden sie, so oder so, zu respektieren haben.

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Sehr geehrter Herr Dr. Heuchemer,
wir sehen einer wichtigen Entscheidung mit Spannung entgegen, das sehe ich auch so. Zwei Fragen:
Welchen "sehr seriösen Blog" von welcher Person meinen Sie denn? Meinen Sie den Blog selbst oder einen Kommentar darin? Ein Link wäre hilfreich.
Und dann schreiben Sie:
"Es geht vielmehr um die Verwertung von Beweismitteln, die offensichtlich vom Zeitpunkt des Beschlusses vom ersten Hauptverhandlungstag (9.4.2003) zugunsten ihrer vollumfänglichen Verwertung das Verfahren doch offensichtlich irreversibel geprägt und die effektive Verteidigung als Zentralkriterium des Art. 6 EMRK untergraben haben." Bei Prüfungsarbeiten werde ich immer aufmerksam, wenn Verstärkungsvokabeln (hier 2x "offensichtlich") auftauchen und mir dann das Verstärkte eben nicht so zweifelsfrei und offensichtlich erscheint. Wo findet sich denn das von Ihnen in Bezug genommene "Vorbringen", das diese Offensichtlichkeit substantiiert? Auch hier wäre vielleicht ein Link möglich? Wie hätte denn die verhinderte effektive Verteidigung in diesem Fall ausgesehen? (Sie sollen hier natürlich keine Geheimnisse verraten, nur das Offensichtliche).

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Ich denke, Herr Dr. Heuchemer bezieht sich auf dieses Blog (Beck-Blog = seriös), nicht auf das über den Pingback verlinkte, rechnet aber die Meinung im verlinkten Blog dem hiesigen zu. Das könnte man m.E. höchstens noch so sehen, wenn der verlinkte Inhalt hier als Kommentar wiedergegeben würde; so ist es jedoch nichts anderes als die Freiheit derjenigen, die extreme Ansichten vertreten, auf seriösere Inhalte im Internet zu verlinken, um sich selbst einen seriöseren Anstrich zu verleihen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger :-)

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Sehr geehrter Herr Professor Müller, sehr geehrter Herr Spoenle,
über Ihre Antworten freue ich mich und gehe gerne darauf ein. Sehr geehrter Herr Spoenle, Ihre Annahme trifft zu, ich meine den verlinkten Artikel. Vielleicht ist es jedenfalls nicht schädlich, auch diese Ansicht so in die Diskussion einbezogen zu haben. Ihnen, sehr geehrter Herr Professor Müller, danke ich für die Nachfrage, und Ihr Interesse an diesen Details freut mich wirklich; genauso, wie ich insgesamt denke, dass die im Rahmen der offenbar geplanten mündlichen Verhandlung ("Hearing") vor der Großen Kammer unvermeidbare Öffentlichkeit unserer Position nur helfen kann. Mehrfach hatte ich erwogen, essentielle Teile unseres (etwa im Tatbestand der BVerfG-Entscheidung und der vorausgehenden Zurückweisung vor dem OLG ablesbaren) Vorbringens "online" zu stellen; dies schon deshalb, weil ich der öffentlichen Diskussion nur wünsche, auf konkrete Details zugrückgreifen und sich auf diesem Wege selbst ein Bild machen zu können. Freilich ist dies zwiespältig, da die öffentliche Präsentation von Schriftsätzen jedenfalls ungewöhnlich ist und den Vorwurf eintragen könnte, diese Einzelheiten aufzunötigen. Sie geben mir jedoch die gerne genutzte Möglichkeit, en detail zu antworten, worin ich das "Offensichtliche" der Untergrabung der effektiven Verteidigung sehe: Am 1.10.2002 gesteht Herrn Magnus Gäfgen unter der Androhung "massiver Schmerzen", wie er sie "noch nie erlebt" habe, die Tötung seines Opfers und nennt, wo sich die Beweise, insbesondere die Leiche finden. Unstreitig ist, dass ihm im Polizeigewahrsam erhebliche Verletzungen beigebracht worden sind, u.a. ein ca. 5 mal 7 cm großes Hämatom an der Brust, welches noch vier Tage danach diagnostiziert wird, sowie Schnittwunden pp. an den Füßen und weiteren Körperteilen. Streitig ist der genaue Ablauf und Zeitpunkt ihrer Beibringung. Unstreitig ist weiter, dass derjenige "Spezialist" für die Beibringung solcher Verletzungen, die im Nachgang nicht nachweisbar sind (u.a. durch das Überdehnen der Handgelenke, wie sich Herr Daschner später im FOCUS und an anderer Stelle erklärt) per Hubschrauber bereits in Marsch gesetzt wurde (vgl. RA Dr. von Becker im "Tagesspiegel" v. 1.12.2008, nachlesbar auf www.michael-heuchemer.de, sowie den Tatbestand des Daschner-Urteils). Unter diesen Umständen erteilte Herr Gäfgen also die gewünschte, selbstbelastende Auskunft. Die Polizei hatte spätestens um 9.07 Uhr am 1.10.2002 von diesen Umständen Kenntnis. Es gab keinerlei Zweifel am eingetretenden Tod des Opfers, wie insbesondere das objektive Verhalten der Polizei zeigt: Ein Polizeioberkommissar, zufällig in Birstein ortskundig, dirigierte Einsatzkräfte an den Weiher in Birstein, die jedoch dort über Stunden untätig verharrten, ohne den Liegeort des Opfers anzurühren. Dies deshalb, weil man den Täter selbst - aus Gründen der Beweissicherung - die Offenbarung des Orts überlassen wird. Man besorgt eine Videokamera und beordert weitere Beamte herbei; mit dem Beschuldigten fährt man in einem langsamen Bus an den fraglichen Ort, wo man zur Mittagszeit am 1.10.2002 eintrifft. Die dortigen Einsatzkräfte warten seit Stunden. Träfe das Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland zu, wonach man auch noch am 1.10.2002 zu dieser Zeit "in Rettungsabsicht" gehandelt habe, so wäre mglw. allen dort wartenden Beamten der Vorwurf der versuchten Tötung durch Unterlassen gemäß den §§ 212 I, 22, 13 I StGB zu machen, denn nach Aktenlage unternahm niemand (sinnlose)Rettungsbemühungen. Erweislich hatte bereits am frühen Morgen des 1.10.2002 Herr Kollege RA Dr. Endres den Kontakt zum leitenden Ermittlungsbeamten KHK M hergestellt; unverzüglich begab er sich "in rasender Fahrt" (Aktenlage) zum Polizeipräsidium, wo er ca. 9.30 Uhr eintraf. Man versagte ihm aber den Kontakt mit meinem Mandanten und teilte mit, er sei "ausgeführt" worden, wobei das Ziel verschwiegen wurde. Dies unter Bruch der unsbestrittenen Auslegung des § 136 StPO, gerade in solchen Fällen Vernehmungen unverzüglich zu unterbrechen und den (hier vorsätzlich vereitelten) Verteidigerkontakt herzustellen. Noch auf der Rückfahrt (!) vom Fundort in Birstein wird der Beschuldigte ausweislich Bl. 52, 56 der "Daschner-Akten" über belastende Details befragt, ohne dass die Vernehmungen je unterbrochen worden wären. Wir bezeichnen dies als den Fall einer vorsätzlichen Entziehung des Verteidigers in den für das gesamte Verfahren weichenstellenden Momenten; zuwider den etwa in den Entscheidungen "Murray I vs. UK" , "Murray II vs. UK" und "Maggee vs. UK" vor dem EGMR in st. Rspr. etablierten Grundsätzen.
Auf diese Weise ermittelte man die entscheidenden Beweise. Wie dies geschah, wurde erst im Januar 2003 ruchbar, als der erweislich bis dahin der Verteidigung vorenthaltene (scil. in den Akten einfach fehlende) Daschner-Vermerk auftauchte, indem er dem "Tagesspiegel" aus unbekannter Quelle zugespielt wurde. Erst zu dieser Zeit wurde das vorher beweislose Vorbringen Herrn Gäfgens beweisbar.
Die vorstehende Schilderung mag zeigen, wie sehr man auf Seite der Ermittler ein "Alles oder Nichts - Spiel" betrieb: Obgleich ohne vernünftigen Zweifel spätestens am 1.10.2002 um 9.07 Uhr feststand, dass eine Notstandslage unter keinem Gesichtspunkt bestand, wollte die Polizei vollendete Tatsachen schaffen und unter Verletzung elementarer Beschuldigtenrechte (insbesondere des Verteidigerkontakts) die erdrückenden Beweismittel auch sichern. Dies waren
- der Fund der Leiche selbst
- die Ergebnisse der Obduktion der Leiche
- Reifenspuren vom Fahrzeug des Bescherdeführers am Tatort
- die Spuren von Schuhabdrücken des Beschwerdeführers am betreffenden Steg in Birstein
- die Erdproben vom Fundort
- die Faserspuren des zur Fesselung des Geschädigten verwendeten Klebebands
- der Videofilm vim Verhalten des Bf. mit Fotos von dem Fundort, gefertigt von KHK L.
(dies als Ausschnitt einer insgesamt ca. 30 Spiegelstriche umfassenden Liste).
Am 9.4.2003 beantragte die damalige Verteidigung durch Herrn Kollegen Stefan Bonn die Einstellung des Verfahrens durch Einstellungsurteil gemäß § 260 III StPO im Hinblick darauf, dass alle entscheidenden Beweise unter Verstoß gegen zentrale prozessuale Normen (§§ 136, 136a StPO; nemo tenetur iSd. Art. 6 I EMRK) erlangt worden sind. Noch am gleichen Tage, dem ersten Tag der Hauptverhandlung, erging der Beschluss, dass alle vorgenannten Beweise verwertet werden würden. Damit wußte der Bf. vom ersten Hauptverhandlungstag an, dass er seiner Tat sicher überführt werde. Nach hiesiger Rechtsauffassung ist dies ein klassischer Fall der Zertörung jedweder effektiven Verteidigung: Das Schweigen wird genauso ineffektiv wie das mögliche Geständnis, welches (wie die Nebenklage und die Anklage zu Protokoll erklärt haben) ohedies vollkommen wertlos wird, da der Täter (so die Nebenklage und StA im Plädoyer) durch genau diese objektiven Beweisstücke ohnedies überführt sei. So entfiel selbst eine Verteidigungsstrategie, welche auf Vermeidung des Verdikts der Schuldschwere gerichtet war.
Bemerkenswert ist: Nebenklage und StA betonten zu Protokoll und reichlich und erweislich berichtet in den Zeitungsmeldungen über die HV, dass das Geständnis wertlos und folglich nicht strafmildernd zu berücksichtigen gewesen sei, da es durch die Beweislage erzwngen sei. Nunmehr, vor dem EGMR zu Straßburg, dreht die Bundesrepublik Deutschland den Spieß um und behauptet, eben jene Beweise seien nur zu Berücksichtigung der Richtigkeit eines freiwillig abgegebenen Geständnisses verwendet worden. Im Vorbringen vom 31.5.2007 verstieg sich die Bundesregierung dazu, zu behaupten, dass die objektiven Beweismittel nicht benutzt worden seien, sondern nur für den Fall des weiteren Schweigens des Beschwerdeführers benutzt worden wären. Diese Behauptung ist jedoch falsch, da diese Beweise allesamt benutzt worden sind, während der Bf. jedenfalls ein Handeln mit Tötungsvorsatz mindestens bis Ende Mai / Juni 2003 in der HV bestritten hat. Und zwar im Einzelnen entlang der HV-Tage:
- am 9.4.2003 (1. HV-Tag) wird der Beschluss zur Verwertung aller objektiven Weise verkündet
- 22.4.2003: Einführung der Klebebänder als Beweismittel
- 24.4.2003 die Sachverständigen Dr. L. und Prof. K. erstatten die Gutachten zu den Beweisen aus Birstein
- 25.4.2003 Vernehmung des Chemikers Dr. K. zu den Beweisen aus Birstein
- 2.5.2003 Vernehmung des Zeugen KHL F. zu den Beweisen aus Birstein
- 9.5.2003 Vernehmung der KHK S und M zum Geschehen in Birstein
- 16.5.2005 Inaugenscheinnahme des Videos aus Birstein (Anm.: In welchem der Bf. entegen nemo tenetur die Beweis aktiv aufdeckt unter dem v.g. Zwang)
usw.
Dies nur als Ausschnitt, der exemplifizieren mag, wie sehr die HV von diesen objektiven Sachbeweisen geprägt war. Man versagte M.G. in der HV jede strafmildernde Wirkung des Geständnisses mit dem Argument, er habe gestanden, was ohnehin aufgrund der v.g. Beweise bewiesen sei. Und nunmehr in Straßburg arguementiert die Regierung mit dem gerade umgekehrten Argument, die Beweise seien nur zur Bestätigung der Richtigkeit des freiwillig abgegebenen Geständnisses verwendet worden. Gerade dies ist, u.a., Zielrichtung unserer Rüge der Verletzung des fairen Verfahrens. Diese Umstände mögen gerne ergänzend und von anderen Juristen als den Verfahrensbeteiligten gewürdigt werden. Wichtig erscheinen mir jedenfalls die überzeugenden Ausführungen der dissenting opinion von Richterin Kalaydjieva, welches entscheidend ausdrückt, worauf es ankommt: Dass "the use of the impunged evidence was of crucial importance in support of the charges"; und - im Hinblick auf die nicht nachvollziehbare Differenzierung, wonach die in zielgerichteter Beugung der Willensfreiheit des Bf. erlangten Beweise anders als in "Jalloh" auf "indirektem" Wege erlangt worden waren: "It seems that the discussion...is of a rather theoretical nature in the present circumstances. The facts indicate that the applicant not only made self-incriminatory statemets. Accompanied by numerous polic officers (in Birstein, Dr. MH) he directly indicated the corpse of the child an, later on the same morning, other substantial self-incriminatory evidence". Dem dürfte wenig hinzuzufügen sein, insbesondere im Lichte der lesenswerten Rn. 97-105 der Jalloh-Entscheidung der Großen Kammer.
Sie mögen bitte gerne selbst beurteilen, ob sich eine "Offensichtlichkeit" des Urteils ergibt. Mir bleibt nur, zu betonen, dass ich selbstverständlich frei bin, die genannten Details (dies sich u.a in div. Art. des Tagesspiegel aus 2003 nachlesen lassen) hier gerafft zusammenzufassen in der Hoffnung, dass die wissenschaftliche Diskussion sie bewerten mag. Jedenfalls: Das Diktum von der Verwendung der Beweismittel nur zu Bestätigung der Richtigkeit eines freiwilligen Geständnisses stellt den erweislichen Verlauf der HV aus meiner Sicht durchaus "offensichtlich" auf den Kopf - gerade im Lichte der damaligen Vorwürfe gegen meinen Mandanten, auch in Ansehung einer erdrückenden Beweislage nicht endlich wenigstens zu gestehen. Ich hoffe, dass diese Informationen der Diskussion ein wenig helfen.

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Lieber Herr von Heintschel,
herzlichen Dank für den Hinweis. S. 658 des in der Tat sehr lesenswerten Beitrags macht die Problematik der Subsumtion unter Art. 1 UNCAT deutlich. Meiner (vorgetragenen) Rechtsauffassung nach folgt aus einer konsequenten Anwendung der Artt. 1, 15 UNCAT als positivrechtlicher Definition, welche vom EGMR ansonsten ja auch gerne herangezogen wurde, die Charakteristik der Androhung entsprechender Maßnahmen als Folter im technischen Sinne. Der Hinweis von Herrn Prof. Esser auf Art. 15 UNCAT ist nur konsequent. Vergessen sei auch nicht, dass es auch durchaus problematisch ist, von einer bloßen Androhung der Methoden zu sprechen, denn immerhin lagen nicht unerhebliche und unstreitig auch in Polizeigewahrsam beigebrachte Verletzungen des Bf. vor, wobei nur die konkrete Art und Weise der Zufügung (Festnahme oder Vernehmung?) im Staatshaftungsverfahren und in Straßburg streitig ist.
Wie dem auch sei; die Große Kammer mag es entscheiden. Auf diesem Wege erlaube ich mir indes die Mitteilung, dass (wie uns am Do. zugestellt wurde) am 18.3.2009 um 9.15 Uhr das Hearing in Straßburg stattfinden wird. Um 8.45 Uhr am selben Tage soll ich mich bei Herrn Präsidenten des Gerichtshof in dessen Büro gemeinsam mit den anderen Verfahrensbevollmächtigten einfinden. Das Ende der (im Internet übertragenen) Anhörung ist gegen 11.30 Uhr geplant. Uns ist eine Schriftsatzfrist zum 21.1.2009 für letzte Ergänzungen unseres Vorbringens eingeräumt.
Abschließend erlaube ich mir auch im Lichte der instruktiven Anmerkung Prof. Essers auf einen Gesichtspunkt hinzuweisen, über den wir in Straßburg sicher trefflich streiten werden: Mir erschließt sich auch bei wiederholter und wirklich distanzierter Lektüre der Randziffern 104 ff der Kammerentscheidung beim besten Willen nicht die Differenzierung, wonach die fraglichen Beweismittel im Fall Jalloh (Große Kammer 2006) "direkt" im Verstoße gegen nemo tenetur , die Beweismittel im Fall Gäfgen indes "indirekt" erlangt worden sein sollen. Mir erscheint der Verstoß im Fall Gäfgen deutlicher und gravierender: Wie Saliger in seinem sehr lesenswerten Aufsatz ZStW 116, 2004 S. 35, 55 überzeugend (und stellvertretend für alle, eine abweichende Behauptung ist mir nicht bekannt) darlegt, bestand in "Gäfgen" gerade kein erlaubter Erkenntnisfortgang zu den Birsteiner Beweismitteln. Sie sind vielmehr gerade durch massive Einwirkung auf die Willensfreiheit des Bf. erpresst worden. Dass die fraglichen Mittel angewendet worden sind, zeige zusätzlich, so Saliger zutreffend, dass es gerade keinen erlaubten Erkenntnisfortganz zu den für das gesamte Verfahren entscheidenden Beweismitteln in dem 60 km von Frankfurt entfernten und dort auf Privatgelände verborgenen Hauptbeweisen gabe (die Regierung trägt vor, man würde diese Beweise eines Tages sowieso gefunden haben - was rein spekulativ ist...). Im Fall Jalloh indes befand sich der Bf. in Polizeigewahrsam; an die Kokain-Bubbles wäre man spätestens am Folgetag durch natürliche Ausscheidung sowieso gelangt. Dennoch hat die Kammer den Verstoß in Gäfgen in milderem Licht gesehen - wie ich denke, im Ansatz unvertretbar. Denn insoweit stand nicht nur das Wie oder Wann, sondern das Ob der Beweiserlangung angesichts der völlig unklaren Situation infrage (vgl. auch S. 56 des Urteils der Schwurgerichtskammer). Dies aber nur als ergänzende Information. Den Aufsatz von Saliger empfehle ich sehr zur Lektüre.

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Herr Gäfgen kämpft weiter.:

http://www.sueddeutsche.de/panorama/verurteilter-jurastudent-magnus-gaefgen-jakobs-moerder-beantragt-neues-verfahren-1.1036909

 Was aber die neuen Tatsachen oder Beweismittel sein sollen, auf die er seinen Wiederaufnahmeantrag stützt, ist mir aus dem Artikel nicht so recht erkennbar (EGMR-Entscheidung der Großen Kammer?) .Wenn man die Ausführungen des Herrn Heuchmer in diesem Blog nachliest, hat man den Eindruck, dass alle Tatsachen und Beweismittel bekannt waren und in der Tatsacheninstanz abgehandelt, aber eben anders rechtlich bewertet wurden, was die Frage des Beweisverwertungsverbotes bzw. einer etwaigen Fernwirkung angeht.
Vielleicht stellt Herr RA Heuchmer wieder Auszüge aus seinen Schriftsätzen ein ;) ?

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