Zivilprozess in England: Warum deutsche Unternehmer eine Rechtswahl England meist bitter bereuen

von Gastbeitrag, veröffentlicht am 16.04.2024
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Der Zivilprozess in England

Vorsicht vor Stolperfallen: Der englische Zivilprozess hat völlig andere Spielregeln als die deutsche ZPO. C.H.BECK-Autor Rechtsanwalt Bernhard Schmeilzl , LL.M. (Leicester) erläutert in seinem Gastbeitrag die verblüffendsten Unterschiede.

Von Rechtsanwalt Bernhard Schmeilzl , LL.M. (Leicester) 

„Come to England to litigate“ ruft die Präsidentin der Law Society von England & Wales im Dezemberheft 2021 des DAV-Anwaltsblatts  auf. Kein Einzelfall. Geschickt preisen die Engländer ihr Rechtssystem seit vielen Jahrzehnten als fair und effizient und werben selbstbewusst für London als den besten Gerichtsstandort für internationale Wirtschaftsstreitigkeiten (business disputes).

Den Aspekt fair kann man uneingeschränkt gelten lassen. Die Wahrheitsfindung hat im englischen Zivilprozess einen höheren Stellenwert als in Deutschland. Nur einige Stichworte: Pflicht zur Offenlegung aller Dokumente, Korrespondenz und Dateien (disclosure), eidesstattliche Versicherung der Prozessparteien und Zeugen, kein Aussageverweigerungsrecht für Zeugen, Weisungsunabhängigkeit der Prozessanwälte (barrister) u.v.m.

Über die Effizienz des englischen Justizsystems, insbesondere was die Kosten und den Arbeitsaufwand für die Prozessbeteiligten angeht, wird allerdings ausgiebig zu reden sein – unter anderem auch in meinem neuen Buch „Der Zivilprozess in England. Ein Leitfaden für die Praxis“ (C.H.BECK, 2024). So ist deutschen Klägern selten bewusst, dass jeder Zeuge bereits Monate vor der mündlichen Verhandlung viele Stunden, in komplexen Streitfällen sogar mehrere Tage, für das „proofing of witness“ zur Verfügung stehen muss.

Zivilprozess in England: Welche Spielregeln gelten?

Vor allem aber muss man sich als potenzielle deutsche Prozesspartei klar machen, dass auf der Insel gänzlich andere prozessuale Spielregeln gelten. Es handelt sich eben nicht „um einen normalen Zivilprozess, nur in englischer Sprache“, wie viele deutsche Unternehmer, Manager und deren Juristen anscheinend häufig denken. Weit gefehlt! Stellt ein deutsches Unternehmen fest, dass für einen Vertragskonflikt die englischen Gerichte zuständig sind, ist die Lage meist dramatisch. Warum?

Viele berufliche Instinkte, die einen Prozessanwalt in Deutschland erfolgreich machen, sind im englischen Zivilprozess kontraproduktiv und reiten den Mandanten ins Unheil. Strategien und Taktiken, die vor deutschen Gerichten zum Ziel führen, lösen in England einen Haftungsfall für den Anwalt aus.

Ein gutes Beispiel hierfür ist „aggressive“ Prozessführung. Deutsche Prozessanwälte sind in aller Regel nicht schüchtern oder zurückhaltend. Sie formulieren, sowohl in der vorprozessualen Korrespondenz als auch in den späteren Schriftsätzen an das Gericht, oft scharf und angriffslustig. Das Bundesverfassungsgericht  hat unter der berühmt gewordenen Formulierung „Kampf ums Recht“ sogar polemische und überspitzte Kritik, selbst am Gericht und an der Staatsanwaltschaft, für ausdrücklich zulässig erklärt.

Behelligung des Gerichts ist ultima ratio

Solch offen gezeigte Kampflust führt in England ins Verderben, denn die oberste Grundregel des englischen Zivilprozessrechts ist: Litigation as a means of last resort! Der Rechtsstreit soll möglichst gar nicht erst vor Gericht kommen, die Behelligung des Gerichts ist ultima ratio.

In jeder Phase des Konflikts sind die Parteien und deren Anwälte zudem aufgefordert, sich „vernünftig“ (reasonable) zu verhalten, Zurückhaltung (restraint) walten zu lassen, kompromissbereit zu sein und sich gütlich zu einigen. Das beginnt mit dem pre-action protocol, der Pflicht der Parteien, bereits in der vorprozessualen Korrespondenz den gesamten Prozessstoff formell auszutauschen, sowohl die juristische Begründung des Anspruchs wie auch sämtliche Beweismittel.

Prinzip der disclosure

Deutschen Juristen gänzlich fremd ist das Prinzip der disclosure, also die Pflicht, der Gegenseite sämtliche Unterlagen im Zusammenhang mit dem Rechtsstreit proaktiv offen legen zu müssen – auch interne Korrespondenz zwischen den eigenen Mitarbeitern, Protokolle interner Besprechungen, Memos und Aktennotizen. Man kann sich vorstellen, dass es den Aktionsspielraum in einem Zivilprozess stark einschränkt, wenn man für die Gegenseite absolut gläsern ist. Allerdings gilt das natürlich in beide Richtungen. Auch der Gegner darf nichts verheimlichen.

Hogan Heaton, Präsident der London Solicitors Litigation Association , wertet dieses Offenlegungsprinzip des englischen Zivilprozessrechts in seinem Interview in der Law Society Gazette vom 4.11.2022 als klaren Standortvorteil: „There are significant procedural advantages to litigating in London. In Europe, you don’t have access to the other parties’ documents. This can be an important factor in deciding where to bring a claim.”

Der englische Zivilprozess hat anderen "Spirit"

Als weitere Beispiele für den anderen „Spirit“ des englischen Zivilprozesses seien genannt: Alle Zeugen und jeder Parteivertreter, etwa der Geschäftsführer der Klägerin, reichen ihre Aussagen vorab detailliert ausformuliert in schriftlicher Form bei Gericht ein, eigenhändig unterzeichnet und versehen mit einer eidesstattlichen Versicherung der Richtigkeit des Inhalts.

Das diszipliniert sowohl die Parteivertreter als auch deren Anwälte enorm. Will man nicht den späteren Unmut des Gerichts riskieren, dann stimmt besser jeder Satz dieser schriftlichen Zeugenaussage (wobei im englischen Recht auch die Parteien selbst Zeugen sind). Die von den Gerichten herausgegebenen Praxisanweisungen (Court Guides und Practice Directions) weisen an vielen Stellen ausdrücklich darauf hin, dass Vorwürfe nicht leichtfertig erhoben werden dürfen.

Englischen Anwälten wird in der Ausbildung vornehme Zurückhaltung antrainiert. Das wird von deutschen Mandanten oft als fehlendes Engagement missverstanden. Aus Sicht des deutschen Klägers hat sein englischer Prozessanwalt zu wenig Biss.

Natürlich sind in Wahrheit auch englische Prozessanwälte beruflich keine Pazifisten. Der Kampf für den eigenen Mandanten findet allerdings erheblich subtiler statt. Schriftsätze sind freundlicher formuliert als in Deutschland. Sarkasmus und Spitzen verkneift man sich besser, um sich nicht sofort den Vorwurf der Unsachlichkeit einzufangen. Und man muss der Gegenseite und dem Gericht stets Vergleichsbereitschaft signalisieren.

Ein weiterer verblüffender Unterschied in der Zivilprozesskultur ist die absolute Wahrheitspflicht, die sowohl in den englischen Civil Procedure Rules als auch in den anwaltlichen Berufsordnungen für solicitor und – ganz besonders – barrister – immer wieder betont werden.

In Schriftsätzen deutscher Anwälte soll sich ja gelegentlich die eine oder andere Tatsachenbehauptung finden, von der der Prozessbevollmächtigte ahnt, dass man diesen Vortrag im Prozess wohl nicht unbedingt wird beweisen können. Was soll schon passieren? Schlimmstenfalls konnte man eben den Beweis nicht führen, wenn der Zeuge in der mündlichen Verhandlung anders aussagt als vom Anwalt im Schriftsatz angekündigt.

In meinen 25 Jahren Berufstätigkeit habe ich jedenfalls kein einziges Mal erlebt, dass ein deutsches Gericht den derart „ins Blaue hinein“ vortragenden Anwalt auch nur gerügt hätte. In England hat der Anwalt in diesem Fall dagegen ein ernstes Problem, weil er oder sie damit gegen ausdrückliche Berufspflichten verstößt und englische Gerichte dies nicht tolerieren.

Apropos solicitor und barrister: In allen größeren Zivil- und Wirtschaftsprozessen benötigt man zwei Arten von Anwälten, den „Hauptanwalt“ (solicitor) als direkten Ansprechpartner und den Prozessanwalt (barrister). Letzterer wird nicht direkt vom Mandanten beauftragt, sondern vom solicitor. Das persönliche Verhältnis zwischen Mandant und „seinem“ Prozessanwalt ist oft nicht eng. Nicht selten trifft der Mandant „seinen“ Prozessanwalt beim Verhandlungstermin zum ersten Mal. Barrister tragen nur vor, wovon sie selbst absolut überzeugt sind. Auch hier gelten die Prinzipien Zurückhaltung, Höflichkeit und Verpflichtung zur Wahrheit.

All diese unerwarteten Komplikationen frustrieren deutsche Unternehmer und deren Juristen ungemein, die einen aus ihrer Sicht eindeutig gegebenen Anspruch einklagen wollen. Statt einer schnellen und konsequenten Klage innerhalb weniger Tage, müssen in England zunächst über Wochen und Monate formelle Anwaltsbriefe ausgetauscht (pre-action conduct) und interne Dokumente offengelegt werden (disclosure). Schon jetzt bereuen viele deutsche Unternehmer, im Vertragswerk mit den englischen Geschäftspartnern nicht auf heimischem Recht bestanden zu haben.

Kosten beim Zivilprozess in England

Doch es kommt noch ärger, denn wir haben noch gar nicht über die Kosten gesprochen. „Let’s talk about funds“, ist einer der ersten Sätze, den ein klagewilliger deutscher Mandant von seinem englischen Anwalt hört. Frei übersetzt bedeutet dieser Satz: „Sind Sie sicher, dass ihre Kriegskasse für den Prozess reicht?“

Einen Zivilprozess in England muss man sich nämlich leisten können. Die Prozesskosten sind dort um ein Vielfaches höher als in Deutschland. Je nach Umfang und rechtlicher Komplexität des Falles gut und gerne fünf bis zehn Mal so hoch, allein was die normalen Prozesskosten betrifft, also Honorare für Anwälte und Sachverständige sowie Gerichtsgebühren.

Noch nicht berücksichtigt ist dabei der erhöhte Aufwand der in grenzüberschreitenden Prozessen für beglaubigte Übersetzungen deutscher Dokumente, Apostillen, Dolmetscher in der mündlichen Verhandlung und Reisekosten entsteht, sowie durch den Erklärungs- und Abstimmungsbedarf zwischen den englischen und deutschen Juristen des Mandanten.

Ganz so schlimm wird es schon nicht sein? Nun ja, bei einem Streitwert von 50.000 Euro oder weniger wird ein Kläger von seinem englischen litigation solicitor in aller Regel schriftlich darauf hingewiesen, dass die Verfahrenskosten den Streitwert (claim value) sehr wahrscheinlich übersteigen werden und dass es selbst im Erfolgsfall nicht sicher ist, dass die Gegenseite die Prozesskosten in voller Höhe erstatten muss.

High risk litigation: Risiko der unverhältnismäßig hohen Kosten

Die Höhe der Kostenerstattung liegt nämlich – wie so vieles im englischen Recht – im relativ freien Ermessen des Gerichts (cost order). Hochqualifizierte Prozessanwälte (barrister) berechnen in Wirtschaftsprozessen 1.000 Pfund netto pro Stunde oder mehr. Unter 500 Pfund pro Stunde bekommt man nur unbekannte Berufsanfänger, die der Prozessgegner nicht ernst nimmt.

Das Risiko unverhältnismäßig hoher Kosten besteht vor allem bei umfangreichen und/oder juristisch komplizierten Fällen (sehr häufig in Wirtschaftsrechtprozessen), oder wenn die Beweislage nicht eindeutig ist.

Englische Prozessanwälte nennen das „high risk litigation“. Dann erreichen die Prozesskosten mühelos einen mittleren oder sogar hohen sechsstelligen Bereich.

Keine verbindlichen Gebührentabellen

Der Mandant merkt das bereits in einem frühen Stadium des Rechtsstreits, denn wegen der prozessualen Pflicht zur Offenlegung aller relevanten Unterlagen (disclosure) sowie der umfangreichen vorprozessualen Korrespondenz zwischen den jeweiligen Parteien bzw. deren Anwälten (pre-action protocol) fallen gerade im Vorfeld eines Prozesses extrem viele Stunden an. Englische Juristen haben dafür die charmante Formulierung: „Litigation cases are front loaded regarding costs.”

Mangels verbindlicher Gebührentabellen fehlt eine klare Vorhersagbarkeit der Anwaltskosten. Eine verbindliche Kostendeckelung wird neuerdings zwar von den englischen Gerichten angestrebt (agreed cost budget), aber man hat in England dennoch nie eine wirklich verbindliche Kostendeckelung.

Somit ist es in englischen Zivilprozessen eine typische Strategie der finanziell stärkeren Partei, den weniger liquiden Gegner durch hohe Kosten auszuhungern und zur Aufgabe bzw. zum Abschluss eines Vergleichs zu zwingen.

Daher tragen englische Anwälte in fast jedem Schriftsatz vor, dass bestimmte Maßnahmen der Gegenseite unnötig, unvernünftig (unreasonable) oder unverhältnismäßig (unproportional) sind. Denn Anwaltskosten, die der Rechtspfleger später in seinem Kostenbeschluss als unreasonable oder unproportional einstuft, werden aus der Kostenaufstellung gestrichen und müssen nicht erstattet werden.

Da solche Entscheidungen häufig subjektiv sind (es wird immer etwas gestrichen), bleibt man auch als zu 100 Prozent obsiegende Partei meist auf einem Anteil seiner Anwaltskosten sitzen.

Neuer Wermutstropfen seit dem Brexit

Noch ein Wermutstropfen: Für Kläger mit Wohn- oder Geschäftssitz in Deutschland besteht seit Brexit zudem die unerfreuliche und kostspielige Situation, dass der in England ansässige Beklagte Sicherheitsleistung für seine eigenen Prozesskosten vom Kläger verlangen kann (security for costs). In Wirtschaftsprozessen ist das schnell ein sechsstelliger Betrag, den der Kläger an Liquidität aufbringen muss, zusätzlich zu seinen eigenen Prozesskosten.

Für alle, die meinen, dieser Text befasst sich zu einseitig mit dem Kostenaspekt, sei einer der bekanntesten englischen Prozessanwälte und Schriftsteller zitiert, Sir John Clifford Mortimer, nicht nur barrister, sondern auch King's Counsel (KC), also Angehöriger des edlen Standes der Elite-Prozessanwälte. Von ihm, dem Schöpfer der Roman- und Filmfigur Horace Rumpole ist das Bonmot überliefert:

If someone tries to steal your watch, by all means, fight them off. If someone sues you for your watch, hand it over and be glad you got away so lightly.

Deutsche Unternehmen, die sich in einem englischen Zivilverfahren wiederfinden, etwa weil sie naiv einen Vertrag mit englischer Gerichtsstandklausel unterschrieben haben, müssen sich also auf eine juristische Papierschlacht ungewohnten Ausmaßes sowie eine mehrtägige mündliche Verhandlung in England einstellen. Zudem auf Anwaltsrechnungen aus England, die man besser nur unter ärztlicher Aufsicht öffnet.

Viele Fragen – viele Antworten – der Praxisleitfaden zum englischen Zivilprozess

Mein neuer Praxisleitfaden, der jüngst bei C.H.BECK erschienen ist, soll deutschen Firmeninhabern, Geschäftsführern, Justiziaren in Rechtsabteilungen und externen Rechtsanwälten, die die Einladung „come to England to litigate“ annehmen möchten (oder müssen) ein realistisches Bild vom Ablauf eines englischen Zivilprozesses vermitteln. Denn auf diese Reise muss gut vorbereitet sein, wer Schiffbruch vermeiden will.

Mit klarem Fokus auf Praxisrelevanz beantwortet der Leitfaden Fragen wie:

  • Welche typischen Fehler muss man in der Prozessvorbereitung vermeiden?
  • Zu welchem Zeitpunkt braucht man welchen Anwalt (solicitor, barrister, adjudicator, solicitor advocate)?
  • Wann ist der beste Zeitpunkt für eine gütliche Einigung (settlement)?
  • Wie bereitet man sich auf die mündliche Verhandlung vor?

Das Buch erklärt den Ablauf des englischen Zivilprozesses, zeigt die – teils verblüffenden – Unterschiede zwischen den Zivilprozessordnungen in Deutschland und England auf und macht die Leser mit den relevanten Akteuren – den englischen Richtern und Anwälten – vertraut. Was ist deren Hintergrund, Selbstverständnis und praktisches Arbeitsumfeld?

Schwerpunkte der Darstellung sind – neben den einzelnen Schritten des Verfahrens – die Beweisaufnahme mittels Zeugen und Sachverständigen, die im englischen Zivilprozess völlig anders abläuft als in Deutschland.

Eine Auswahl der praktisch relevantesten Formulare sowie Muster-Mandantenbriefe im Anhang des Buches vermitteln einen konkreten Eindruck der englischen Prozesspraxis und runden das Bild ab.

Weitere Informationen zum Autor des Beitrags finden Sie hier. 
 

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