Tausendfache Verfolgung Unschuldiger (§ 344 StGB) zur Manipulation der Polizeilichen Kriminalstatistik?
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Die jährlich mit viel Energie von Polizei, Innen- und Rechtspolitikern verbreitete und kommentierte Polizeiliche Kriminalstatistik birgt regelmäßig politischen Zündstoff. Seit ein paar Jahren ist es in Mode gekommen, schon Tage vor dem offiziellen Erscheinen die wichtigsten „Ergebnisse“ vorab einigen ausgewählten Journalisten/ Medien zu „leaken“. Dazu werden dann schon einmal politische Stellungnahmen eingeholt, die ungestört von kritischen Nachfragen verbreitet werden können. Am Herausgabetag wird dann in einer Pressekonferenz Medienvertretern der Blick auf die Daten erlaubt, ausgewählt jedoch nach den von den Behörden gesetzten Kriterien. Die nun ebenfalls publizierten Rohdaten in ellenlangen Tabellen einzusehen, ist für die meisten Journalisten in der Zeitnot nicht möglich und verlangt ja auch eine gewisse, nicht bei allen vorhandene, Expertise. Mit entsprechender thematischer Selektion und Aufbereitung, dieses Mal etwa zur „Ausländerkriminalität“ und „Kinderkriminalität“, erreichen die Polizeistatistiker und Innenpolitiker maximalen politischen Einfluss, bevor überhaupt ein näherer Blick auf die Zahlen oder gar eine wissenschaftliche Aufbereitung erfolgen kann.
Wenig später werden meist auch Kriminologen (mich eingeschlossen) gefragt, die dann ebenfalls schon ritualisiert auf die eigentliche (eher fehlende) Aussagekraft der Polizeistatistik im Hinblick auf die Realität der Straftatenentwicklung hinweisen. Man erhält dann drei bis vier TV-Minuten, um dem stundenlangen und schon Tage zuvor eingesetzten Geprassel einen Mini-Schirm entgegenzuhalten. Es ist aber meist zu spät und zu wenig, was die Wissenschaft hier ausrichten kann mit ihrem Mantra: Nein, die polizeiliche Kriminalstatistik ist eigentlich gar keine Kriminalstatistik, …. nein, die steigenden Gesamtzahlen geben nicht die Realität wieder … nein, die Entwicklung in Deutschland ist nicht so besorgniserregend wie man aus den Hellfeldzahlen herauslesen zu können glaubt.
Trotz meines Eindrucks, dass auf die Kriminologie wenig bis gar nicht gehört wird, wenn es um die Statistik geht, möchte ich hier einmal einen einzelnen Umstand beleuchten, der aus meiner Sicht doch etwas mehr Aufmerksamkeit verdient hat und den ich mit der Überschrift angesprochen habe:
Jährlich werden tausende kleine Kinder wegen des illegalen Grenzübertritts und illegalen Aufenthalts als Tatverdächtige registriert und gehen in die Polizeiliche Kriminalstatistik ein. Ja, richtig: Babys und Kleinkinder, die mit ihren Eltern die Grenze nach Deutschland überqueren oder hier leben, werden von der Polizei als Tatverdächtige von (angeblich) rechtswidrig begangenen Straftaten geführt – nicht in irrtümlichen Einzelfällen, sondern systematisch und wider besseres Wissen. Mit diesen Daten werden die Polizeistatistiken angefüttert, insbesondere die Bereiche „Zuwandererkriminalität“ und „Kinderkriminalität“.
Im Bereich der Kinderkriminalität unter sechs Jahren sind es um die 90% aller in dieser Altersgruppe polizeilich erfassten Straftaten (siehe Tabelle). Das heißt, ohne diese statistischen Einträge gäbe es polizeistatistisch - wenig überraschend - nahezu gar keine Kriminalität der Kinder im Alter unter sechs Jahren. Dabei ist es meines Erachtens jedem Menschen, erst recht natürlich den dazu ausgebildeten Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten klar, dass hier gar keine Straftaten dieser Kinder vorliegen. Ein Kind unter sechs Jahren ist ja nicht nur eindeutig strafunmündig, was polizeistatistisch nach den gegebenen Richtlinien aber keine Rolle spielen soll. Die als tatverdächtig erfassten Babys sind jedoch nicht einmal körperlich zu der angeblichen Straftat des Grenzübertritts in der Lage (sie werden über die Grenze getragen oder im Kinderwagen geschoben). Und im Falle der fußläufig erfassten Kleinkinder sind diese geistig unfähig das Konzept „Grenze“ und „Illegalität“ überhaupt zu erfassen, um den entsprechenden zur rechtswidrigen Tat gehörenden Vorsatz zu bilden. Jedenfalls aber begründet es erkennbar keine Rechtswidrigkeit, wenn ein Kleinkind seinen Eltern bzw. den sich um es kümmernden Erwachsenen auf dem Weg über die Grenze folgt oder bei ihnen in Deutschland lebt.
Aus objektiver Sicht betrachtet handelt sich bei diesen Angaben in der Polizeistatistik um die Dokumentation tausendfacher Fälle der Verfolgung Unschuldiger durch die verantwortlichen Polizeibeamtinnen und -beamten (strafbar als Verbrechen nach § 344 StGB). Denn hinter jedem Eintrag in der Fall- und Tatverdächtigenstatistik steckt ein entsprechendes polizeiliches Strafverfolgungsverfahren aufgrund eines Straftatverdachts. Nun wird ja nicht wirklich „ermittelt“, sondern die Ermittlungen beschränken sich wohl auf die Registration dieser (angeblichen) Straftaten und der minderjährigen Tatverdächtigen. Die Einstellung der Verfahren folgt auf dem Fuße. Ein mit der Ermittlung wegen § 344 StGB befasster Staatsanwalt oder eine Staatsanwältin würde daher wohl den Vorsatz der Beamten und Beamtinnen verneinen, „absichtlich oder wissentlich einen Unschuldigen oder jemanden, der sonst nach dem Gesetz nicht strafrechtlich verfolgt werden darf, strafrechtlich zu verfolgen oder auf eine solche Verfolgung hinzuwirken“.
Aber was besagt dann die Statistik? Werden hiermit Straftaten (und Tatverdächtige) statistisch erfasst, von denen der Eintragende weiß, dass sie gar nicht begangen wurden und auch nicht zur Verfolgung führen werden? Liegt allein darin nicht schon eine relevante Täuschung der Öffentlichkeit?
Bei der Frage nach dem Motiv dahinter muss ich spekulieren: Die Polizeiliche Kriminalstatistik ist ein Arbeitsnachweis der Polizei. In der Öffentlichkeit „verkauft“ wird die Kriminalstatistik aber als etwas anderes: Nämlich als eine objektive behördliche Auskunft über das Vorhandensein und die Trendentwicklung von Kriminalität. Um die Öffentlichkeit auf die besorgniserregende Kriminalität hinzuweisen und die Wichtigkeit der polizeilichen Strafverfolgung, mag es für die Polizeistatistiker und Innenpolitiker sinnvoll sein, darin auch ein paar tausend Nicht-Straftaten mitzuzählen. Sie können davon ausgehen, dass die Medien da gar nicht drauf kommen, denn man muss in den Tabellen schon sehr weit nach unten scrollen, um dies zu erkennen. Für die Polizei hat die Registrierung außerdem den Vorteil, dass hiermit die Aufklärungsquote insgesamt positiv beeinflusst werden kann, da es sich um Kontrolldelikte mit einer Aufklärungsquote nahe bei 100% handelt.
Dass diese objektive Verfolgung Unschuldiger unmittelbar politischen Erfolg hat, zeigt etwa die Reaktion Herbert Reuls, Innenminister des größten Bundeslands NRW: Er forderte angesichts des aus seiner Sicht besorgniserregenden Anstiegs der Kinderkriminalität die Absenkung des Strafmündigkeitsalters auf 12 Jahre. Das beruht einfach auf einer – aus meiner Sicht besorgniserregenden Uninformiertheit: Selbstverständlich würde eine Absenkung des Strafmündigkeitsalters gar nichts an der polizeistatistisch ermittelten „Kinderkriminalität“ ändern. Denn die polizeistatistische Aufzeichnung hat mit der Strafmündigkeit nichts zu tun (s.o.). Und im (angeblichen) Anstieg der Kinderkriminalität sind tausende Fälle von angeblich strafbarem illegalem Grenzübertritt bzw. Aufenthalt von Kindern enthalten, die im Jahr 2022 wesentlich weniger oft erfasst wurden.
Um es noch einmal zusammenzufassen: Polizeiliche Ermittlungen wegen unerlaubten Grenzübertritten und illegalen Aufenthalten von Kleinkindern und Babys erfüllen objektiv den Tatbestand der Verfolgung Unschuldiger (§ 344 StGB). Die Erfassung der nicht existierenden Straftaten in der Fallstatistik sowie von Kleinkindern und Babys als Tatverdächtige in der Polizeilichen Kriminalstatistik ist daher nicht nur schlicht falsch und täuscht die Öffentlichkeit, sondern stellt wegen der Folgen in den Debatten um „Zuwandererkriminalität“ und „Kinderkriminalität“ einen politischen Skandal dar.
Update (24.04.2024):
Ein paar Klarstellungen gegenüber kritischen Antworten hier und in Social Media:
Es geht in der Polizeilichen Kriminalstatistik NICHT um eine statistische Erfassung von Personen, die verwaltungsrechtswidrig die Grenze (in irgendeiner Form) überquert haben, es geht auch NICHT um Fälle der Meldung beim Jugendamt, es geht auch NICHT um polizeiliche Gefahrenabwehr, auch wenn Wähler rechtsextremistischer Parteien darauf bestehen mögen, dass diese Babys und Kleinkinder eine Gefahr darstellen. Es geht in der PKS nur und AUSSCHLIESSLICH um Straftaten, die polizeilich verfolgt werden. In der PKS wird zwischen der Fallzählung und Tatverdächtigenzählung differenziert. Nach der echten Tatverdächtigenzählung der Kriminalstatitistik wird jede/r Tatverdächtige in einem Jahr nur einmal gezählt, auch eine erwachsene Person, die einige Babys über die Grenze trägt oder im Kinderwagen schiebt, würde nur einmal als tatverdächtige Person gezählt. Was also mit der Zählung der Babys und Kleinkinder tatsächlich erreicht wird, ist eine zusätzliche Anzahl von Fällen mit Kindern als Tatverdächtigen, die im Einklang mit den Richtlinien der polizeistatistischen Erfassung GAR NICHT als Straftaten und tatverdächtige Personen erfasst werden dürften, auch nicht bei den Eltern.
Es geht in meinem Beitrag nicht um Fälle, in denen zunächst eine Tat (etwa eine Brandstiftung) festgestellt wird, bei der sich im Verlauf der polizeilichen Ermittlungen herausstellt, dass die Ursache ein Kleinkind war - in diesen Fällen ist die statistische Erfassung tatsächlich nachvollziehbar und entspricht den polizeistatistischen Richtlininen. Es geht um die in meinem Beitrag erwähnte Konstellation, die ca. 90 % der Fälle von Kleinkindkriminalität ausmacht und bei der - wie bei anderen Kontrolldelikten, die (hier: angebliche) Straftat und (hier: angebliche) Tatverdächtige in ein und demselben, (hier: nach § 344 StGB objektiv verbotenen) Akt zur polizeistatistisch erfassten Strafverfolgung registriert werden.
PS (17.04.2024): Um evtl. Irritationen zu beschwichtigen. Ein gewisser Kommentator, der hier in der Beck Community unter verschiedenen Namen auftritt und regelmäßig kommentiert, hat vor einiger Zeit einen klar volksverhetzenden Fäkal-Kommentar unter einen meiner Beiträge platziert. Ich habe ihn daraufhin von den Diskussionen unter meinen Beiträgen ausgeschlossen und werde dies weiterhin tun, indem ich seine Beiträge sperre.