BAG: Kündigung wegen Griffs zwischen die Beine

von Prof. Dr. Christian Rolfs, veröffentlicht am 29.08.2017
Rechtsgebiete: Bürgerliches RechtArbeitsrecht2|8663 Aufrufe

Die absichtliche Berührung primärer oder sekundärer Geschlechtsmerkmale eines anderen ist sexuell bestimmt i.S. des § 3 Abs. 4 AGG. Es handelt sich um einen Eingriff in die körperliche Intimsphäre. Auf eine sexuelle Motivation der Berührung kommt es nicht an.

Das hat das BAG entschieden.

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung. Der Kläger ist seit 1991 bei der Beklagten als Arbeiter beschäftigt. Am 22.10.2014 war er zusammen mit zwei Leiharbeitnehmern bei der Verpackung und Etikettierung von Bandstahlrollen tätig. Einer der Leiharbeitnehmer meldete zwei Tage später seinem Vorarbeiter, der Kläger habe ihn von hinten schmerzhaft in den Genitalbereich gegriffen und anschließend darüber Bemerkungen gemacht ("dicke Eier").

Das Arbeitsgericht hat die Kündigungsschutzklage abgewiesen. Das LAG Bremen hat ihr stattgegeben. Auf die Revision der Arbeitgeberin hat das BAG das Berufungsurteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurückverwiesen.

Der - nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts zielgerichtete - Griff des Klägers in die Genitalien des Mitarbeiters der Fremdfirma ist eine sexuell bestimmte körperliche Berührung iSd. § 3 Abs. 4 AGG. Es handelt sich um einen auf die primären Geschlechtsmerkmale und somit die körperliche Intimsphäre des Mitarbeiters gerichteten körperlichen Übergriff, durch den die sexuelle Selbstbestimmung des Betroffenen negiert und damit seine Würde erheblich verletzt wird. Die anschließende Äußerung des Klägers, der Mitarbeiter habe „dicke Eier“, ist in diesem Zusammenhang eine entwürdigende Bemerkung sexuellen Inhalts iSd. § 3 Abs. 4 AGG. Selbst wenn eine solche Erklärung in einem anderen Kontext als Anerkennung von Entschlossenheit oder Mut des Betroffenen zu verstehen sein mag, ist hierfür im vorliegenden Zusammenhang kein Raum. Die durch den vorausgegangenen körperlichen Übergriff bewirkte Demütigung des Fremdfirmenmitarbeiters wurde durch die entsprechende Äußerung des Klägers vielmehr noch verstärkt, indem die vorherige körperliche Belästigung sprachlich manifestiert und der Betroffene dadurch erneut zum Objekt der vermeintlichen Dominanz des Klägers gemacht wurde.

Ob die außerordentliche Kündigung wirksam sei, müsse das Landesarbeitsgericht entscheiden. Die dafür erforderliche Interessenabwägung (§ 626 Abs. 1 BGB) konnte das BAG nicht selbst vornehmen. Insbesondere muss das LAG prüfen, ob eine Abmahnung ausreichend sein kann, um ein vergleichbares Fehlverhalten des Klägers künftig zu vermeiden. Zwar war der Kläger nicht schon zuvor für vergleichbares Fehlverhalten erfolglos abgemahnt worden. Es bedarf zur Überzeugung des BAG aber der tatrichterlichen Würdigung, inwiefern der Umstand, dass er das ihm vorgeworfene Verhalten bei seiner Anhörung vor der Kündigung bestritt, auf eine Uneinsichtigkeit schließen lässt, die der Annahme entgegensteht, sein künftiges Verhalten könne schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden.

BAG, Urt. vom 29.6.2017 - 2 AZR 302/16, BeckRS 2017, 121650

Update 30.8.2017: Das obige Zitat stammt aus der Datenbank BeckOnline. Dort heißt es "dicke 23 Eier". In der auf der Seite des BAG veröffentlichten Entscheidung fehlt diese Zahlenangabe. Ich habe sie daher hier wieder gestrichen. Vielen Dank an die Kommentatoren für den Hinweis.

Diesen Beitrag per E-Mail weiterempfehlenDruckversion

Hinweise zur bestehenden Moderationspraxis
Kommentar schreiben

2 Kommentare

Kommentare als Feed abonnieren

Die anschließende Äußerung des Klägers, der Mitarbeiter habe „dicke 23 Eier“, ist in diesem Zusammenhang eine entwürdigende Bemerkung sexuellen Inhalts...

"Dicke 23 Eier" haben wohl kaum sexuellen, als vielmehr lediglich kabarettistischen Inhalt, denn wer kann schon wirklich "dicke 23 Eier" sein eigen nennen oder ernsthaft seinem Gegner andichten? Selbst in der Bratpfanne wären das zu viele Eier, geschweige denn in den modernen eng geschnitten Hosen. Im offiziellen Internetauftritt des BAG ist nur von "dicke Eier" die Rede (BAG, U. v. 29.6.2017 - 2 AZR 302/16, Rdnr. 23 und passim). Dass es sich um "dicke 23 Eier" handelt, wird dort schamhaft verschwiegen. Ein ganz schlimmes Beispiel zielgerichtet unterdrückter Information! In unserem informierten Blog weiß man es, wie immer, natürlich besser! :-D

Das mit den "23 Eier" dürfte wohl ein Fehler beim copy&paste gewesen sein, der in der Entscheidung bei beckRS so steht, nicht aber auf der BAG-Seite.

 

0

Kommentar hinzufügen